Tekst je objavljen u casopisu "Die Zeit" br. 46 od 5.11.2009
Zapadni Balkan = Ex Jugoslavija – Slovenija + Albanija
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"Der Krieg ist noch nicht zu Ende"
Die Balkan-Staaten pochen auf ihre Souveränität, doch das Miteinander will ihnen nicht gelingen. Eine politische Reise durch Bosnien, Serbien und das Kosovo.
Im ehemaligen Jugoslawien wird nicht mehr geschossen und gestorben. Aber noch immer gibt es frische Gräber; in Bosnien-Herzegowina werden jeden Tag mühsam identifizierte Leichen beerdigt. Noch fristen in sechs Republiken Hunderttausende Flüchtlinge in Sammellagern oder Behelfsunterkünften ihr dürftiges Leben. Und wenn auch überall Neubauten aus dem Boden schießen, erinnern doch allenthalben noch viele Ruinen an die jugoslawischen Auflösungskriege. Die Narben sind verheilt, aber sie schmerzen weiter. Manch einer befürchtet, dass sie wieder zu bluten anfangen. »Wenn es so weitergeht, wird es ohne Frage wieder Konflikte geben«, sagt Sulejman Tihić, Chef der größten Muslim-Partei in Bosnien.
Die Lage in der Region, die neuerdings »Westbalkan« heißt (womit Exjugoslawien minus Slowenien plus Albanien gemeint ist), scheint äußerlich ruhig, aber unter der Oberfläche rumort es. Dies jedenfalls war der beherrschende Eindruck, den eine internationale Journalistengruppe auf einer von der Robert Bosch Stiftung organisierten Reise nach Serbien, Makedonien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina und Kroatien gewann. Den Staatspräsidenten und Regierungschefs, Politikern und Studenten, zivilen und militärischen »Internationalen« – allen war die Beunruhigung darüber anzumerken, dass Exjugoslawien seine endgültige Form noch nicht gefunden hat.
»Unser nunmehr fertiger Staat« nannte Bismarck das 1870/71 von ihm geeinte Deutschland. Von den sieben Ländern, die aus Titos Erbmasse entstanden sind, können vier dies nicht von sich behaupten; sie sind unfertige Staaten. Serbien ist unfertig, solange es noch davon träumt, Kosovo abermals seiner Souveränität, wenn schon nicht seiner direkten Herrschaft zu unterstellen. Kosovo seinerseits ist unfertig, solange es im Innern gespalten bleibt und nach außen fortdauernd um seine Anerkennung buhlen muss (von 27 EU-Mitgliedern haben fünf die 2008 ausgerufene unabhängige Republik nicht anerkannt; insgesamt haben dies erst 62 Staaten getan). Bosnien-Herzegowina ist nach wie vor ein Provisorium, und schließlich muss auch Makedonien als unfertig gelten, da es bis heute nicht gelungen ist, die slawische Mehrheit und die albanische Minderheit zu mehr als zähneknirschender Zusammenarbeit zu bewegen.
Wo der ausländische Besucher auch hinkommt, in Belgrad und Skopje, in Prishtinë, Sarajewo und Zagreb – überall hört er dasselbe Lied. Alle wollen so rasch wie möglich in die Europäische Union aufgenommen werden. Alle pochen auf ihre Souveränität und territoriale Integrität. Und alle wollen den Lebensstandard ihrer Bürger heben; ein an sich schon schwieriges Vorhaben, das ihnen die Weltwirtschaftskrise nun zusätzlich erschwert.
Noch stabilisieren Soldaten aus 32 Staaten das Kosovo
Der serbische Präsident Boris Tadić spricht bewegt über alle drei Themen. »Serbien in die EU zu bringen, ist meine wichtigste Aufgabe«, sagt er und verweist auf die vielen Reformen, die Belgrad einseitig vorgenommen hat, um beitrittsfähig zu werden – Reformen, die im jüngsten Erweiterungsbericht de EU-Kommission ausdrücklich gewürdigt werden; die lang ersehnte Visafreiheit für Reisen von Serben in die EU-Staaten vom 1. Januar 2010 an ist die Belohnung dafür. Die Reformen hat er eingeführt, obwohl die EU das auf der Grundlage des Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen abgeschlossene Interimshandelsabkommen auf Eis gelegt hat; die Niederländer hatten ihr Veto gegen seine Inkraftsetzung eingelegt, solange Belgrad den angeklagten Kriegsverbrecher Ratko Mladić nicht ausliefere. Wozu der Präsident geradezu verzweifelt bemerkte: »Wie soll ich jemanden ausliefern, dessen Aufenthaltsort ich nicht kenne? Mein Tag beginnt jeden Morgen mit den Berichten der Geheimdienste über Mladić. Ich werde nicht aufhören, nach ihm zu suchen. Karadžić haben wir schließlich auch wenige Tage nach meinem Amtsantritt an das Haager Tribunal ausgeliefert, und zwar unmittelbar, nachdem wir ihn entdeckt hatten. Heute tappen wir im Dunkeln.«
Als seine zweitwichtigste Aufgabe betrachtet Tadić die Verteidigung der territorialen Unversehrtheit Serbiens, im Klartext: die Rettung des Kosovos für die Serben. Dabei macht er, ein pragmatischer Nationalist, sich keine Illusionen. Er weiß: Der Zustand vor dem Kosovokrieg (1999) lässt sich nicht wiederherstellen, da die Kosovaren niemals wieder unter serbischer Herrschaft leben wollen. Indes werden in der Belgrader Präsidialkanzlei eine Reihe von Lösungsmöglichkeiten erwogen, die dem Kosovo seine Autonomie belassen würden, aber wenigstens eine lose Unterstellung unter serbische Souveränität ermöglichen könnten. Der Status der zwischen Schweden und Finnland gelegenen Ålandinseln, die Rechtsstellung Nordirlands im Vereinten Königreich oder die chinesische Sonderregelung für Hongkong werden akribisch untersucht, aber auch das Verhältnis der beiden deutschen Staaten im Kalten Krieg – beiderseitige Anerkennung bei Festhalten an unterschiedlichen Fernzielen – findet in diesem Zusammenhang großes Interesse.
Die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovos empfindet Boris Tadić – wie alle Serben nicht ohne einen gewissen Hang zum Selbstmitleid – als eine tiefe Demütigung. Belgrad hat den Internationalen Gerichtshof angerufen; er soll die Unabhängigkeitserklärung für völkerrechtswidrig erklären. Ein Urteil wird im nächsten Jahr erwartet. Im Kosovo pocht Ministerpräsident Hashim Thaçi auf den Konferenztisch: »Die Statusfrage ist am 17. Februar 2008 endgültig geklärt worden. Wir sind unabhängig. Daran gibt es nichts zu deuteln.«
Der KFor-Kommandeur, der deutsche General Markus Bentler, beschreibt die Lage in dem jungen Staat als »ruhig und stabil«. Seine 12500 – bald nur noch 10.000 – Soldaten aus 32 Nationen sorgen dafür, dass es so bleibt. Die KFor genießt Respekt, anders als die UN-Organe und die Eulex-Mission, die in seltsam verschachtelter Parallelität und Rivalität im Lande das letzte Wort haben. Es wird noch Jahre dauern, bis die Soldaten abziehen können.
Aber Bentler sieht auch, dass der Frust über ihre Lage an den Menschen frisst: die hohe Arbeitslosigkeit, bis zu 60 Prozent bei der Jugend; das Zurückfallen der Dörfer; die faktische Abspaltung der serbisch besiedelten und von Belgrad ausgehaltenen Landstriche nördlich des Ibar-Flusses, der Mitrovica teilt; die Tatsache, dass den Kosovaren die Visafreiheit verweigert wird, was sie als demütigende Zurücksetzung empfinden. Die für Mitte November angesetzten Gemeindewahlen könnten die Kluft zwischen den Volksgruppen – 1,8 Millionen Menschen, davon 120.000 Serben – noch weiter aufreißen.
Nach Europa und in die Nato drängen sowohl Ministerpräsident Hashim Thaçi als auch der Oppositionsführer Ramush Haradinaj. Aber bis zur Vollmitgliedschaft ist es noch ein weiter Weg. Das gleiche gilt für Bosnien-Herzegowina.
Dort hat das Dayton-Abkommen von 1995 den Krieg beendet, dem Frieden hat es nur schwache Streben einziehen können. Dayton funktioniert nicht. Ein verwirrendes Nebeneinander und Durcheinander von Körperschaften und Institutionen lähmt den Gesamtstaat: Zwei »Entitäten« blockieren einander, die Gebietseinheiten Republika Srpska und die Kroatisch-Bosnische Föderation, Letztere aufgespalten in zehn Kantone, davon drei mit kroatischer Mehrheit. Wohl ist es in 14 Jahren gelungen, einheitliche Nummernschilder, einheitliche Pässe und eine einheitliche Währung einzuführen. Aber noch immer leistet sich das Land drei Präsidenten, eine Vielzahl von Parlamenten und Ministern, dazu einen aufgeblähten dreifachen Verwaltungsapparat. Wenn eine Entität einer Maßnahme oder einem Gesetz ihre Zustimmung verweigert, bewegt sich nichts.
Flüchtlinge sind nur wenige zurückgekehrt; die Ergebnisse der ethnischen Säuberungen sind zementiert. In den Schulen treffen die Kinder nicht mehr auf Angehörige anderer Volksgruppen, anderer Religionen; so wird eine Generation junger Nationalisten erzogen. Wie Davor Vuletić, der außenpolitische Berater des bosnjakischen Präsidiumsmitglieds Haris Silajdžić, es ausdrückt: »Der Krieg ist noch nicht zu Ende, es wird bloß nicht mehr geschossen.«
Das Schlimmste ist, dass sich die Zukunftsvorstellungen der Serben und der muslimischen Bosnjaken total widersprechen. Silajdžić möchte am liebsten die Entitäten abschaffen. Milorad Dodik hingegen, der Ministerpräsident der Republika Srpska, verfolgt genau das entgegengesetzte Ziel: Er will alle Zuständigkeiten auf die Entitätenebene verlegen und den Gesamtstaat entkernen.
In seinem protzigen neuen Regierungspalast in Banja Luka wettert Dodik gegen die Hohen Vertreter der Staatengemeinschaft, die in Bosnien seit 1995 das Sagen haben: »Was sie taten, war schlimmer als alles, was wir in den kommunistischen Diktaturen erlebten. Jeden Morgen finde ich fünf neue Verordnungen auf meinem Schreibtisch. Ich werde dagegen ankämpfen.« Er leugnet, dass er den Anschluss an Serbien anstrebt, und man glaubt es dem machthungrigen Hünen sogar – er will Herr bleiben in seinem eigenen Staat. Ein Grund dafür: seine Angst davor, dass Bosnien mit seinen derzeit 48 Prozent Bosnjaken, 38 Prozent Serben und 13 Prozent Kroaten allmählich muslimisch wird.
»Wir wollen keine Abspaltung«, sagt Dodik. »Aber falls Bosnien-Herzegowina sich friedlich auflösen sollte, müssten wir diese Haltung überprüfen.« Eine Teilung will übrigens auch der serbische Premier Tadić nicht. »Eine bosnjakische Nation, gedemütigt und eingequetscht zwischen einem Großkroatien und einem Großserbien, wäre eine Katastrophe«, erklärte er der internationalen Journalistengruppe in Belgrad. »Ließe ich mich darauf ein, wäre ich augenblicklich ein Held. Aber ich wäre verrückt. Es wäre gegen unser nationales Interesse und gegen das Gesamtinteresse des Balkans.« Nicht anders urteilte ein paar Tage später der kroatische Präsident Stipe Mesić.
Dayton ist zum Rezept für staatliches Scheitern geworden. Europa weiß es, Amerika weiß es: Die untaugliche Verfassung muss revidiert werden. Ein erster Ansatz zur Revision blieb 2005/6 stecken. Ein zweiter Ansatz endete im vorigen Monat ohne Ergebnis. Nun herrscht rundherum Ratlosigkeit.
Der Balkan bietet heute wenig Anlass zu Optimismus. Jeder einzige seiner unfertigen Staaten ist eine Zeitbombe. Sie alle polieren engstirnig an ihrer Identität, setzen sich von einander ab, versuchen auch, ihre Sprachen künstlich auseinanderzudividieren. Aber es gibt doch auch einige Silberstreifen am Horizont. Untergründig erinnern sich die Menschen daran, dass sie einmal zusammen waren. Von der »Jugosphäre« ist zuweilen zu hören, meist in ökonomischen Zusammenhängen. Und die Jugend, obwohl sie keine Erinnerung mehr an das alte Jugoslawien hat, tanzt in den Discos überall nach der gleichen Musik, komme sie nun aus Serbien oder Kroatien, aus Montenegro oder Bosnien. Die kroatische Sängerin Severina füllt mit Leichtigkeit das Belgrader Fußballstadion.
Welche Schlussfolgerungen sollte die EU ziehen, um aus einer verfahrenen Situation herauszukommen, in der »balkanisch« noch immer gleichzusetzen ist mit »vulkanisch«? Und was müssen die Länder des Westbalkans selber tun, um ihrem Ziel näherzukommen, der Aufnahme in die EU?
Zunächst einmal haben die Nachfolgestaaten des alten Jugoslawien eine Bringschuld. Sie müssen aufhören, nur nach Brüssel zu blicken, aber die unmittelbaren Nachbarn zu ignorieren. Die Region muss lernen, sich wieder als Region zu begreifen. Integration darf nicht nur heißen: Integration in Europa; zuvörderst muss sie Annäherung, Zusammenarbeit, Ausgleich und letztlich Aussöhnung in der Nachbarschaft bedeuten.
Zum 1. August 2014 könnten die Balkanländer der EU beitreten
Doch zugleich hat die EU eine Holschuld. In den 14 Jahren, die seit Dayton vergangen sind (zehn Jahre seit dem Kosovokrieg), hat sie den Balkan mehr und mehr aus den Augen verloren. Wohl hat sie für ihre Balkanprotektorate Milliarden bereitgestellt, Militär entsandt, Hohe Repräsentanten eingesetzt, Unruhen eingedämmt. Doch im Laufe der Zeit ist die Region vom europäischen Radarschirm verschwunden. Sie wurde technokratisch verwaltet. Eine politische, strategische Vision war nicht mehr zu erkennen.
Dies muss sich ändern, wenn auf dem Balkan nicht inmitten der EU ein gefährliches schwarzes Loch entstehen soll – bedrohlicher als zum Beispiel Afghanistan. Dazu jedoch braucht es einen neuen politischen Anschub, konkret: einen Verhandlungsrahmen für die ganze Region, einen festen Zeitplan und ein klares Ziel.
In jüngster Zeit ist hier und dort ein einleuchtender Gedanke ventiliert worden. Bis zum 1. August 2014 sollen danach alle Balkanländer Mitglieder Europäischen Union sein. Ein historisches Datum: Genau hundert Jahre zuvor begann der Erste Weltkrieg. Ein Datum auch, das hinter die Befriedung Südosteuropas und seine Eingliederung in die Brüsseler Gemeinschaft einen symbolträchtigen Schlusspunkt setzen würde.
1. August 2014: Fünf Jahre hätte die EU Zeit, um voranzutreiben, was geografisch, geschichtlich und politisch unabwendbar ist: die Entbalkanisierung des Balkans und seine endgültige Rückkehr nach Europa.